Geschäft: Die verbotenen Kinder der Saisonniers – St.Galler Aufarbeitung eines düsteren Kapitels der Schweizer Migrationspolitik
Komitee | Kantonsrat |
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Nummer | 43.24.01 |
Titel | Die verbotenen Kinder der Saisonniers – St.Galler Aufarbeitung eines düsteren Kapitels der Schweizer Migrationspolitik |
Art | KR Postulat |
Thema | Landesverteidigung, Sicherheit und Ordnung |
Federführung | Departement des Innern |
Eröffnung | 19.2.2024 |
Abschluss | 1.5.2024 |
Letze Änderung | 17.7.2024 |
vertraulich | Nein |
öffentlich | Ja |
dringend | Nein |
Datum | Akteur | Titel | Letze Änderung |
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19.2.2024 | Person | Erstunterzeichner/-in - Sulzer-Wil | 21.11.2024 |
Datum | Titel | Resultat | öffentlich | ||||
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Ja | Bedeutung | Nein | Bedeutung | Absent / Enthaltung | |||
1.5.2024 | Eintreten | 37 | Zustimmung | 76 | Ablehnung | 7 |
Datum | Typ | Wortlaut | Session |
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1.5.2024 | Beschluss | Der Kantonsrat tritt mit 76:37 Stimmen bei 1 Enthaltung nicht auf das Postulat ein. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Regierungsrätin Bucher: Auf das Postulat ist nicht einzutreten. Ich danke Ihnen für die Diskussion, die in aller Ernsthaftigkeit und auch dem Thema angemessen geführt wird. Auch die Regierung anerkennt, dass das Saisonnierstatut insbesondere für die Kinder der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sehr negative Auswirkungen hatte, weil diese Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Sie konnten nicht mit den Eltern zusammen in die Schweiz kommen. Sie mussten in Italien bzw. im Herkunftsland bleiben. Das war keine gute Ausgangslage für diese Kinder, oder noch schlimmer, einige dieser Kinder kamen, um die Trennung der Eltern zu vermeiden, illegal in die Schweiz. Sie wurden hierhergebracht und als sogenannte «Schrankkinder» regelrecht versteckt. Sie mussten im Verborgenen leben. Dass das zu sehr schwierigen Situationen, schwierigen Biografien und umfassenden Traumen führte, die heute mit einem etwas anderen Blick auf dieses inzwischen abgeschaffte Saisonnierstatut sehr betroffen machen, ist uns allen im Saal klar. Auch die Regierung anerkennt das. Die Regierung ist der Meinung, dass die Aufarbeitung dieses düsteren Teils der Migrationsgeschichte unseres Landes auf Bundesebene erfolgen sollte, weil das Saisonnierstatut ein bundesrechtliches Instrument war, das für die ganze Schweiz gleichermassen galt. Ich wurde nach der Quellenlage gefragt. Sie ist anspruchsvoll. Das spricht auch dafür, dass man sich eher auf eine bundesweite Aufarbeitung konzentriert. Klarerweise handelt es sich um illegale Kinder, die eigentlich nicht anwesend sein durften. Wir haben deshalb keine Akten oder Berichte zu diesen «nicht vorhandenen» Kindern. Man müsste also Aktenbestände zu Einzelfällen, die aus irgendwelchen Gründen aufgetaucht sind, genauer untersuchen. Wir denken z.B. an Rekurse, Gerichtsfälle oder fremdenpolizeiliche Untersuchungen, die zu analysieren wären. Man könnte für die Frage, wie die Verwaltung beim Vollzug dieses Statuts umgegangen ist, auch auf Akten aus der Verwaltung zurückgreifen. Auch könnte auf Akten von externen Organisationen wie Wirtschaftsverbände, Hilfswerke oder konsularische Dienste zurückgegriffen werden. Ein bekanntes Mittel aus der historischen Wissenschaft ist auch die Befragung von Betroffenen. Insgesamt ist es eine anspruchsvolle, aber nicht unmögliche Ausgangslage. Ich möchte mir zum Schluss eine persönliche Bemerkung zum Votum von Locher-St.Gallen erlauben. Auch ein Staat und auch eine Regierung können sich nicht darauf beschränken, den Blick nur in die Zukunft zu richten. Das zeigen insbesondere auch die schrecklichen Ereignisse des Nationalsozialismus, an die man nicht genug erinnern kann. Deshalb unterstützt die Regierung diesen Blick zurück auf Bundesebene. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Gschwend-Altstätten: Auf das Postulat ist einzutreten. Ich weiss, dass Sie sehr historisch interessiert sind, Locher-St.Gallen. Ich gehe davon aus, dass Sie von Albert Einstein und seinem Blick in die Zukunft viel halten. Wir tun das alle auch. Als historisch interessierter Mensch wurden Sie sicher schon mehrmals mit den Zitaten konfrontiert: Wer nichts weiss über die Vergangenheit, ist gezwungen, sie zu wiederholen. Wer nichts weiss über die Vergangenheit, der versteht die Gegenwart nicht und ist noch viel mehr unfähig, die Zukunft einigermassen schlau zu gestalten. In diesem Sinn haben mich Ihre Ausführungen sehr erstaunt. Es geht nicht nur um Entschuldigung von irgendetwas, das weit entfernt ist. Es geht um staatliche Willkür gegenüber Menschen, die sich nichts zuschulden kommen liessen. Es geht um Menschen, die jetzt noch unter uns leben, sei es in der Schweiz oder wieder in Italien. Es geht um eine Auseinandersetzung mit einer Frage, die sich hier abgespielt hat, nicht beim Bund. Man kann immer alles weiter auf die Ebene des Bundes schieben. Es geht um eine Untersuchung, was passiert ist. Auch geht es darum, dass wir eine saubere Ausgangslage haben, wie wir in dieser Frage weiter vorgehen. Es kann sein, dass es zu einer Entschädigung kommt, was aber nicht Gegenstand dieses Vorstosses ist. Es kann auch sein, dass es nur dazu kommt, dass wir sagen: Wir als Staat bzw. unsere Vorgänger machten einen Fehler. Wir stehen hin für diesen Fehler und sind fair gegenüber den Opfern. Wir vergeben uns nichts, wenn wir zu dieser historischen Arbeit Ja sagen, damit wir diese Grundlage erhalten. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Bisig-Rapperswil-Jona (im Namen der GLP): Auf das Postulat ist einzutreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte grosse Arbeitslosigkeit im Süden Europas. Viele Menschen waren auf der Suche nach einem besseren Leben und haben es in der Migration auch gefunden. Die Schweiz hingegen war nach dem Zweiten Weltkrieg unversehrt und erlebte ein Wirtschaftswunder. Tunnels und Autobahnen mussten gebaut werden, dafür brauchte es Arbeitskräfte. Gleichzeitig, das zeigen auch Zeitdokumente, herrschte auch eine gewisse Überfremdungsangst. Deswegen wurde das Saisonnierstatut 70 Jahre lang nicht gross angepasst. Die Bedingungen für Saisonniers waren menschenunwürdig. Sie durften den Arbeitgeber nicht wechseln, die Unterkünfte waren teilweise desolat und Grundrechte, wie das Grundrecht auf Ehe und Familie, wurden verletzt. 15’000 bis 50’000 Kinder lebten im Versteckten. Sie lebten in Angst, mussten unsichtbar und still bleiben. Sie durften nicht auffallen, nicht draussen spielen und nicht in die Schule gehen. Sie verbrachten ihre Zeit in abgedunkelten Wohnungen. Auf der anderen Seite wurden Kinder, die in den Herkunftsländern verblieben, von ihren Eltern getrennt und mussten teilweise ebenfalls traumatische Erfahrungen machen. Hier gehen Schätzungen von 500’000 Kindern in den Herkunftsländern aus. Es sind Geschichten voller Traurigkeit und von Menschen, die heute in unserer Gesellschaft leben. Aus unserer Sicht ist die Zeit reif für eine Untersuchung und eine Entschuldigung der Behörden. Eine Entschuldigung ist nicht modern, Locher-St.Gallen. Eine Entschuldigung zeigt Grösse. Das Postulat kann der erste Schritt sein, um die historische Aufarbeitung in die Wege zu leiten. Wir sehen es als Aufgabe des Kantons, dies zu machen. Schliesslich war es der Kanton, der diese Massnahmen vollzogen hat und eine Mitverantwortung trägt. Es ist also sicher nicht kontraproduktiv, wenn der Kanton St.Gallen eine historische Aufarbeitung in die Wege leitet, selbst wenn auch der Bund die Geschichte aufarbeiten würde. Das ist für uns nicht kontraproduktiv, sondern ergänzend. Wichtig ist uns, dass bei der Umsetzung der Fokus auf die Gegebenheiten in St.Gallen gesetzt wird. Wie die Situation bei uns im Kanton, bei Arbeitgebern und bei den betroffenen Familien war. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Locher-St.Gallen (im Namen der FDP-Fraktion): Auf das Postulat ist nicht einzutreten. Albert Einstein hat einmal den Satz geprägt, er sei zum Entscheid gekommen, sich nur noch mit der Zukunft zu beschäftigen, weil er die Erkenntnis gewonnen habe, dass er den Rest seines Lebens dort verbringen werde. Es ist eine Gnade oder vielleicht auch eine Überheblichkeit von Spätgeborenen, alles und jedes, was in der Vergangenheit vielleicht nicht ganz richtig gelaufen ist, zu hinterfragen und sich darüber tiefschürfende Gedanken zu machen, statt sich mit den Herausforderungen zu beschäftigen, die in der Zukunft bewältigt werden müssen. Geschichtsschreibung ist nicht Aufgabe der Regierung. Das Postulat will das aber: Die Regierung soll aufarbeiten. Geschichtsschreibung ist nicht eine staatliche Aufgabe. Ich weiss schon, Sie wollen Fördermittel. So, wie das der Kantonsrat vor Jahren einmal im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Sklaverei gemacht hat, damit Hans Fässler seine Arbeit schreiben konnte. Jetzt wollen Sie Fördermittel für die Aufarbeitung dieses Migrationsthemas. Das ist nicht die Aufgabe der Regierung und der Verwaltung. Das ist die Aufgabe der Wissenschaft. Und wenn das ein wissenschaftliches Thema sein soll, wird es die Wissenschaft auch aufgreifen. Es gibt im Internet z.B. die Website «sozialgeschichte.ch» und es gibt auch St.Galler Organisationen, die Beiträge leisten, aber nicht der Staat. An die Adresse der Postulanten: Wenn das ein wichtiges Thema ist, begeistern Sie die Wirtschaft dafür und schreiben Sie doch ein Buch. Wenn dieses spannend und wissenschaftlich wichtig ist, wird es die Verbreitung finden, die es erfordert. Es wurde heute auch das Wort der Entschuldigung aufgeworfen. Wir entschuldigen uns ja für alles und jedes, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde. Das ist modern. Wir würden uns manchmal vielleicht besser dafür entschuldigen, was wir heute tun oder nicht tun bzw. was wir unterlassen. Wir würden uns besser die Frage stellen: Was können wir in Zukunft im Sinn von Einstein tun? Oder was zu tun ist und was getan werden muss. Es gibt sehr viele Fehlentwicklungen in der Welt, auch in Europa. Diesbezüglich stelle ich manchmal eine Ignoranz fest. Sprechen wir also darüber, was wir in Zukunft besser tun können, aber nicht, was alles in der Vergangenheit hätte besser gemacht werden können. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Zschokke-Rapperswil-Jona (im Namen der GRÜNE-Fraktion): Auf das Postulat ist einzutreten. Auch wenn ich eine italienische Nonna hatte, ist meine Familie zwar nicht direkt betroffen, sie hatte aber betroffene Familien in ihrem Umfeld. Das Saisonnierstatut war eine gesetzliche Grundlage für die gesamte Schweiz. Es stimmt, dass dieses Kapitel der Migrationsgeschichte auf Bundesebene aufgearbeitet werden muss, was bis heute leider nicht geschehen ist. Trotzdem macht es sich die Regierung etwas zu einfach, die Verantwortung einfach an den Bund zu delegieren. Auch im Kanton St.Gallen leben und lebten betroffene Familien, die mit ihrem Leid und zum Teil traumatischen Erfahrungen allein gelassen werden. So waren es die kantonalen Behörden, welche die gesetzlichen Vorgaben vollzogen haben. Das Mindeste wäre eine offizielle Entschuldigung, auch auf Kantonsebene. Leider können wir das Rad der Zeit nicht zurückdrehen und das Kapitel der Saisonnierkinder ungeschehen machen. Was wir aber tun können bzw. tun müssen, ist, aus unseren Fehlern zu lernen. Denn auch heute gibt es Kinder in der Schweiz – auch im Kanton St.Gallen –, die im Verborgenen leben, vielleicht nicht zur Schule gehen und weder Rechte noch eine Krankenversicherung besitzen. Es sind z.B. Kinder von Sans-Papiers. Es sind oft Mütter, die als Haushälterinnen arbeiten oder ältere und gebrechliche Menschen pflegen und damit für einen kleinen Lohn einen grossen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten. Lasst uns aus unseren Fehlern lernen. Lasst den Kanton St.Gallen Vorreiter und Vorbild sein, um aus Fehlern zu lernen. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Müller-St.Gallen (im Namen der Mitte-EVP-Fraktion): Auf das Postulat ist nicht einzutreten. Von 1934 bis 2002 – also während 68 Jahren – galt in der Schweiz das Saisonnierstatut. Dieses verbot Gastarbeitern mit einer befristeten Aufnahme-/Arbeitsbewilligung, ihre Kinder und Ehefrauen mitzunehmen. Selbst jene Arbeitsmigranten, die über eine Jahresbewilligung verfügten, konnten ihre Familien nur unter bestimmten Bedingungen nachziehen. Faktisch verfolgte die Schweiz damit gegenüber Menschen aus der europäischen Nachbarschaft eine Politik der Familientrennung, die auch im internationalen Vergleich sehr weit ging. Bis heute ist nicht genau klar, wie viele Kinder ohne ihre Eltern im Heimatland aufwachsen oder in der Schweiz illegal als sogenannte «Schrankkinder» leben mussten, um nicht aufzufallen. Offizielle Zahlen gibt es keine, nicht zuletzt deshalb, weil die fremdenpolizeilichen Akten in vielen Kantonen vernichtet oder unauffindbar sind. Wie sieht das in unserem Kanton aus? Ich habe das gestern die Vorsteherin des Departementes des Innern gefragt. Sie wird uns etwas zum Thema sagen. Historiker und Beratungsstellen gingen bisher von 10'000 bis 15'000 versteckten Kindern aus. Nun zeigt eine neue wissenschaftliche Hochrechnung: Es waren viel mehr. Zuständig für die Bewilligung der Saisonniers in dieser Zeit war die kantonale Fremdenpolizei, heute das kantonale Migrationsamt. Eine Minderheit unserer Fraktion ist der Meinung, dass der Kanton dies aufarbeiten soll, denn dieser hatte die Massnahmen umgesetzt und sollte die Akten dazu haben. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass ab sofort keine Akten zu den Saisonniers zwischen 1934 und 2002 vernichtet werden. Eine Mehrheit der Mitte-EVP-Fraktion unterstützt den Antrag der Regierung, weil die Fremdenpolizei nationales Recht umgesetzt hat. Deshalb soll die Aufarbeitung auf Bundesebene geschehen. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Vogel-Bütschwil-Ganterschwil (im Namen der SVP-Fraktion): Auf das Postulat ist nicht einzutreten. Das Saisonnierstatut von 1934 regelte die Vergabe von Kurzaufenthaltsbewilligungen für ausländische Arbeiter in der Schweiz bis 2002. Geregelt war dies im Bundesgesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern (ANAG). Zuerst war der Aufenthalt eines sogenannten «Saisonniers» auf 11,5 Monate und ab 1973 auf höchstens neun Monate je Jahr beschränkt. Später gab es auch noch Kurzaufenthaltsbewilligungen. Das Saisonnierstatut hatte damals für die Schweizer Wirtschaft viele Vorteile. Man konnte sich mehr oder weniger diejenige Anzahl Arbeitnehmer holen, die man gerade brauchte. Oft kamen diese aus dem Balkan, Spanien, Italien und Portugal. Gebraucht wurden sie in der Industrie, in der Bauwirtschaft und im Tourismus. Brauchte man die Arbeiter nicht mehr, mussten sie zurück in ihr Heimatland. Kommen durften nur die Eltern, denn der Kindernachzug war für ausländische Arbeitnehmer mit diesem Status offiziell verboten. Die Kinder durften je nach Kanton nur während drei bis höchstens sechs Monaten je Jahr bei ihnen sein. Sie verblieben im Heimatland oder kamen, wie von Sulzer-Wil angesprochen, illegal hierher. Schätzungsweise mehrere zehntausend Kinder lebten über die Jahrzehnte so im Untergrund. Je länger, je mehr wurde dieses Saisonnierstatut gelockert, doch das Schicksal dieser «Schrankkinder» hat viele Familien gezeichnet. Wir würdigen und verdanken die harte und unermüdliche Arbeit der Saisonniers. Sie haben viel zum Wohlstand und zu Strassen, Stauseen, Tunnels und einem guten Tourismus in der Schweiz beigetragen. Nun fordern das Postulat im Kantonsrat und der nationale Verein Tesoro auf Bundesebene eine offizielle Entschuldigung, eine Aufarbeitung und eine Wiedergutmachung. Es ist nicht zielführend und gerecht, wenn der Kanton St.Gallen die Geschichte der Kinder des Saisonnierstatuts allein aufarbeitet und mit «Zahlungen» wiedergutmacht. Aus unserer Sicht handelt es sich klar um ein Bundesgesetz und bei der Thematik um eine nationale Angelegenheit. Darüber hinaus ist die Sache im Licht der damaligen Zeit zu betrachten. Die Schweiz brauchte in Zeiten des Wirtschaftswachstums ausländische Arbeitskräfte und hatte damit nach Jahrhunderten des Auswanderns kaum Erfahrung. Der Kanton St.Gallen kann keine Wiedergutmachung für damalig demokratisch Erlassenes und ein gültiges Gesetz, das überdies nach damaliger Ansicht korrekt angewendet wurde, leisten. Zudem würde ein St.Galler «Wiedergutmachungstopf» neue Ungerechtigkeiten gegenüber den Saisonnierkindern in anderen Kantonen schaffen. Es besteht bereits eine Unzahl von Studien und Dokumenten zu den Saisonnierkindern – allein drei Seiten Publikation auf der Website des Vereins Tesoro. Darüber hinaus ist der Verein Tesoro bereits mit demselben Anliegen auf nationaler Ebene aktiv, darunter Treffen mit Bundesräten und nationalen Parlamentariern. Wir verweisen – selbstverständlich ohne die Schicksale zu vergleichen – auf die erfolgreiche Aufarbeitung und die erfolgreiche Wiedergutmachung bei Verdingkindern auf nationaler Ebene. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Sulzer-Wil: Auf das Postulat ist einzutreten. Das Thema, das ich mit diesem Postulat aufnehme, ist ein sehr emotionales. Es ist eines, das mit grossem persönlichen Leid von vielen tausend Familien und Kindern im Kanton verbunden ist. In der Schweiz mangelte es nach dem Zweiten Weltkrieg an Arbeitskräften. So wurden je Jahr teilweise über 200'000 Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in die Schweiz geholt. Auch der Kanton St.Gallen hat das gemacht. Er bewilligte zehntausende Aufenthaltsbewilligungen für Ausländerinnen und Ausländer. In den frühen 1970er-Jahren lebten allein in unserem Kanton in einem Jahr 30'000 italienische Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Wie in der ganzen Schweiz waren auch hier die Arbeits- und Wohnbedingungen für die meisten Saisonarbeiterinnen und -arbeiter prekär. Sie wurden als Menschen zweiter Klasse behandelt und waren weitgehend rechtlos. Ihre Kinder mussten sie zuhause lassen. Einen Familiennachzug, wie wir ihn heute kennen, gab es damals nicht. So brachten trotzdem viele Familien ihre Kinder im Kofferraum des Autos verbotenerweise mit in die Schweiz. Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 50'000 solcher Kinder in der Schweiz im Untergrund lebten – versteckt im Kasten. Sie mussten drinnen bleiben und konnten keine Schule besuchen. Nicht selten wurde die Fremdenpolizei durch Hinweise aus der Nachbarschaft auf solche Kinder aufmerksam, was üblicherweise den Landesverweis zur Folge hatte. Für viele betroffene Familien und Kinder waren Isolation und Trennung eine traumatische Erfahrung, die bei den Betroffenen bis heute anhält. Vielleicht haben Sie den neuen Dokumentarfilm von Jörg Huwyler und Beat Bieri gesehen, der sich mit dem Schicksal dieser verbotenen Kinder befasst. Vielleicht haben Sie auch den Dokumentarfilm von «SRF» gesehen. Wenn Sie diese Dokumentarfilme schauen und die herabwürdigende Art sehen, wie diese Menschen von den Behörden behandelt wurden, diese teilweise sehr schlechten Unterkünfte, in denen sie wohnen mussten, die Rechtlosigkeit, in der sie gehalten wurden, lässt uns das auch heute noch fassungslos zurück. Wer diese Bilder gesehen hat, wird sofort verstehen, weshalb eine Aufarbeitung dieser Zeit notwendig ist. Diese Aufarbeitung ist nicht einfach Sache des Bundes, sondern auch Sache der Kantone. Die Fremdenpolizei war direkt für die Umsetzung zuständig. Der Kanton hatte starken Einfluss auf den Vollzug der Bundesgesetze. Mir ist klar, dass ein Postulatsbericht allein nicht genügt, um diese Geschichte aufzuarbeiten. Darum lade ich die Regierung ein, die Geschichte der Arbeitsmigration der Nachkriegszeit und insbesondere die unmenschliche Situation der Saisonnierkinder im Kanton wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen und auf dieser Basis die notwendigen politischen Konsequenzen zu ziehen, dem Kantonsrat darüber mit einem Postulatsbericht Bericht zu erstatten sowie die Ergebnisse in geeigneter Form auch der Öffentlichkeit und der Bevölkerung bekannt zu machen. Mein Postulat soll ein Anstoss für die Regierung sein, mit dieser Aufarbeitung zu beginnen. Ich bin mir bewusst, das bedeutet Arbeit, das kostet etwas, das wird aufwendig und aufreibend sein und es wird wahrscheinlich auch Erschütterndes zutage befördern. Aber ich bin überzeugt, dass es eine notwendige Arbeit ist und wir uns als Kanton mit diesem unrühmlichen Kapitel befassen sollten, damit wir verstehen und aus der Geschichte lernen können. Schieben wir die Aufgabe also nicht einfach dem Bund ab. Dieser hat auch eine Aufgabe, da hat die Regierung schon recht. Wir haben bei dieser Aufarbeitung aber als Kanton eine Aufgabe bzw. eine Mitverantwortung, der wir uns stellen sollten. Lasst uns unsere Geschichte im Kanton aus eigenem Antrieb aufarbeiten. Das wäre ein wichtiges Zeichen auch an die ehemaligen betroffenen Kinder und Familien – Kinder, die heute erwachsen sind. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |
1.5.2024 | Wortmeldung | Dürr-Gams, Ratsvizepräsidentin: Die Regierung beantragt Nichteintreten auf das Postulat. | Session des Kantonsrates vom 29. April bis 2. Mai 2024, Aufräumsession |