Geschäft: Jede Stimme zählt: Einführung eines gerechteren Sitzzuteilungsverfahrens

Übersicht
KomiteeKantonsrat
Nummer42.23.16
TitelJede Stimme zählt: Einführung eines gerechteren Sitzzuteilungsverfahrens
ArtKR Motion
ThemaGrundlagen und Organisation
FederführungStaatskanzlei
Eröffnung20.9.2023
Abschlusspendent
Letze Änderung27.10.2023
vertraulichNein
öffentlichJa
dringendNein
Dokumente
PubliziertTypTitelDatei
WortlautWortlaut vom 20. September 2023
AntragAntrag der Regierung vom 24. Oktober 2023
Beteiligungen
DatumAkteurTitelLetze Änderung
2.11.2023Person8.12.2024
20.9.2023Person8.12.2024
20.9.2023Person8.12.2024
Abstimmungen
DatumTitelResultatöffentlich
JaBedeutungNeinBedeutungAbsent / Enthaltung
29.11.2023Eintreten34Zustimmung66Ablehnung19
Statements
DatumTypWortlautSession
29.11.2023Beschluss

Der Kantonsrat tritt mit 66:34 Stimmen bei 4 Enthaltungen nicht auf die Motion ein.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Staatssekretär van Spyk: Auf die Motion ist nicht einzutreten.

Aus Sicht der Regierung möchte ich festhalten, dass ein Wahlsystem immer unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hat. Die Proportionalität ist eine ganz zentrale Funktion, aber es ist nicht die einzige. Funktionen sind auch die Nachvollziehbarkeit und die Vermeidung der Zersplitterung der Parteilandschaft. In Bezug auf die Nachvollziehbarkeit wurden verschiedene Argumente angeführt, die bei Hagenbach-Bischoff sicher besser und einfacher zu vermitteln sind als beim doppelten Proporzverfahren. Ich denke, die Nachvollziehbarkeit gilt es aber auch in Bezug auf die Wahlkreise zu berücksichtigen. Gerade für den Kanton St.Gallen mit sehr charakteristischen Wahlkreisen, in dem auch die historische Herkunft des Wahlkreises für die parteipolitische Zusammensetzung eine Rolle spielt, ist es sehr relevant, dass die Nachvollziehbarkeit bestehen bleibt. Beim Doppelproporzverfahren wird diese sicher geschwächt und verwässert. Auch die Übersichtlichkeit, welche Person in welchem Wahlkreis gewählt wurde, wird geschwächt. Bei der Zersplitterung ist auch zu berücksichtigen, dass auch bei einem Doppelproporzverfahren verschiedene Mechanismen – insbesondere Minimalquoren – eingesetzt werden, um diese zu verhindern, was wiederum zu einer Schwächung der Proportionalität führt, um ebendiesen Zweck zu erfüllen.

Aus dem Gesagten folgt auch aus Sicht der Regierung, dass das bestehende Verfahren eine gute, ausgewogene Lösung ist, das die verschiedenen Funktionen eines Wahlverfahrens angemessen berücksichtigt und daher nach wie vor eine gangbare und gute Lösung für den Kanton St.Gallen ist.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Dürr-Widnau (im Namen der Mitte-Mitglieder): Auf die Motion ist nicht einzutreten.

Lippuner-Grabs hat bereits die technische Berechnung mitgeteilt. Ich verzichte auf die Wiederholung. Ich bin nicht sicher, ob das jeder verstanden hat, weil so einfach ist das nicht. Nichtsdestotrotz möchte ich einige Argumente vorbringen, die gegen die Überweisung dieser Motion sprechen. Wie Monstein-St.Gallen gesagt hat, haben wir bereits im Juni 2018 darüber gesprochen. Selbstverständlich können Sie den Vorstoss, der im Jahr 2018 abgelehnt wurde, wieder bringen, aber bitte mit neuen Erkenntnissen und neuen Argumenten. Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile. Entsprechend muss man sich überlegen, was man möchte. Für uns überwiegen die Nachteile. Es wurde schon erwähnt, bei den Nationalratswahlen haben wir das System von Hagenbach-Bischoff. Ich bin nicht sicher, ob die Bürgerschaft versteht, dass wir bei den Nationalratswahlen dieses Verfahren haben und bei den Kantonsratswahlen ein anderes. Wir glauben nicht, dass das dann für die Bevölkerung transparent und einfach ist.

Monstein-St.Gallen hat von Verzerrungen gesprochen und davon, dass die GLP bei minus 0,25 Prozent sechs Sitze verloren hat. Ich bin sehr gespannt, wenn die GLP 0,25 Prozent zugelegt hätte und sechs Sitze gewonnen hätte, ob er dann gleich gesprochen hätte. Ich bezweifle es. Aber es geht darum, dass es sein kann, dass innerhalb eines Wahlkreises Personen gewählt werden, die in der Region bzw. im Wahlkreis über keinen Rückhalt verfügen. Diese Gefahr besteht, das kann man nicht verneinen. Das ist ein Nachteil, der klar anerkannt werden muss.

Es wurde gesagt, für einen Sitz braucht es neu 0,83 Prozent. Es stellt sich auch die Frage, ob wir im Kantonsrat eine Zersplitterung wollen. Wollen wir nochmal drei bis vier Parteien mehr im Kantonsrat? Ich stelle mir dann die Frage, wie das gehandhabt werden könnte und wie dann die Debatten wären. Ich habe mir erlaubt, dazu die Nationalratswahlen-Resultate vom Oktober 2023 anzuschauen. Nach diesen hätten wir wenigstens zwei Parteien mehr im Kantonsrat. Die Vereinigung Aufrecht St.Gallen und die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) wären neu im Kantonsrat, allenfalls auch Parteifrei SG. Denn die zwei Ersterwähnten haben dieses Quorum sicher erreicht, und bei Parteifrei SG steht im Resultat 0,8 Prozent, aber ich weiss nicht, wie viel nach dem Komma ist. Wollen wir diese Zersplitterung? Wenn wir das nicht wollen und das System wechseln, müssen wir eine Mindestquote einführen, dass wir am Schluss nicht zehn Parteien haben wie in anderen Ländern. Sie sehen z.B. in Holland usw., wie das dann läuft. Das wollen wir nicht.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Dudli-Oberbüren (im Namen der SVP-Fraktion): Auf die Motion ist nicht einzutreten.

Einleitend darf ich auf eine interessante Äusserung von Müller-St.Gallen verweisen. Er hat erwähnt, dass die MCG im Kanton Genf mit einem Wähleranteil von lediglich 0,5 Prozent landesweit zwei Nationalratssitze gewonnen hat und sogar noch einen Ständeratssitz. Das hat mit den Wahlkreisen zu tun. MCG ist nur im Kanton Genf aktiv, hat aber dort sehr stark zugeschlagen. Diese Thematik hat Lippuner-Grabs bereits erörtert.

Die Motionäre bemängeln eine aktuell nicht herrschende Rechtsgleichheit und daraus folgend eine Ungleichbehandlung in der Mandatszuteilung bei Proporzwahlen. Der doppelte Pukelsheim sei die Lösung. Es ist sich aber vor Augen zu führen, dass bereits das aktuelle Zuteilungsverfahren nach Hagenbach-Bischoff zuweilen recht sonderbare Blüten treibt. So haben die drei Motionäre ihren Wohnsitz im Wahlkreis St.Gallen, in dem bei den letzten Kantonsratswahlen total 29 Mandate zu vergeben waren. Ihnen wurden 2'387, 2'198 bzw. 1'565 Stimmen zuteil. Sie erreichten somit die Ränge 104, 117 und 167 und dürften sich trotzdem über ihr Mandat im durchlauchten 29er-Gremium freuen. Ich mag es ihnen gönnen. Selbst der Letztplatzierte der SVP-Liste hat einen Drittel mehr Stimmen erzielt als der Stimmenbeste der drei Motionäre. Trotzdem ist er weit von einem Kantonsratsmandat entfernt. Das Proporzwahlverfahren bestimmt dies so. Eine noch schrägere Mandatszuteilung ist schlicht nicht angebracht. Gerecht wäre dies keinesfalls.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Etterlin-Rorschach (im Namen der SP-Fraktion): Auf die Motion ist einzutreten.

Das Thema doppelter Pukelsheim ist seit vielen Jahren ein Dauerbrenner im Kantonsrat. Wir haben das vor etwas mehr als vier Jahren im Geschäft 22.18.08 «Gesetz über Wahlen und Abstimmungen» sehr intensiv miteinander abgehandelt. Es ist für alle neuen Mitglieder des Kantonsrates wirklich von Relevanz, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Ziel eines jeden Wahlsystems und Ziel eines jeden Wahlproporzsystems ist es, möglichst gerecht und präzis den Wählerwillen abzuleiten.

Insbesondere in der Schweiz ebenso ein grosses Thema ist der Minderheitenschutz. Wenn Lippuner-Grabs da jetzt irgendwelche Verwerfungen nahezu lächerlich macht, ist das noch lange kein Grund dafür anzunehmen, das Modell Hagenbach-Bischoff sei per se gerecht. Das Hagenbach-Bischoff-Modell ist von vielen weiteren Faktoren abhängig. Es geht in erster Linie darum, wie gross die Wahlkreise sind. Da haben wir im Kanton St.Gallen per se schon enorm grosse Verwerfungen. Im Wahlkreis St.Gallen zusammen mit der Stadt Gossau braucht es für einen Sitz im Kantonsrat rund 3 Prozent der Stimmen. Am anderen Ende der Skala haben wir die Wahlkreise Rorschach und Werdenberg, wo es 9 Prozent der Stimmen für einen Sitz braucht, also nahezu dreimal mehr.

Dann gibt es die eindeutige bundesgerichtliche Rechtsprechung. Diese sagt präzise aus, dass höchstens 10 Prozent zulässig sind. Der Kanton St.Gallen schrammt also ganz leicht unterhalb dieser bundesgerichtlich attestierten Gerechtigkeitsschwelle. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie deswegen in Ordnung ist. Im Kanton St.Gallen kommt erschwerend dazu, dass Listenverbindungen nicht möglich sind und daraus abgeleitet grosse Parteien per se bevorteilt werden. Ich erinnere an die kürzlich abgehaltenen Nationalratswahlen. An die Kollegen der Mitte-Partei: Wären Sie nachbetrachtet eine Listenverbindung mit der GLP eingegangen, hätten Sie Ihr Mandat, das Sie vor vier Jahren verloren haben, zurückerobern können. Sie haben das aber nicht gemacht, und deswegen ging das frei werdende Mandat der GLP an die SVP.

Es ist also absolut legitim, dass auch Listenverbindungen gemacht werden. Deswegen ist nicht nur beim Wahlsystem nachzujustieren mit dem doppelten Pukelsheim, sondern wir werden uns nach den Gesamterneuerungswahlen zusammensetzen und einen Weg finden müssen, wie wir für den Kanton St.Gallen ein gerechteres Wahlsystem aufbauen können. Ich versichere Ihnen, dass wir uns dazu mit allen konstruktiven Kräften zusammentun, um uns für diesen Belang einzusetzen.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Lippuner-Grabs (im Namen der FDP-Fraktion): Auf die Motion ist nicht einzutreten.

Die drei Motionäre möchten das Verfahren bei Proporzwahlen im Kanton anpassen und neu die sogenannte doppeltproportionale Divisormethode mit Standardrundung anwenden – auch bekannt unter dem Namen doppelter Pukelsheim. Diese Methode sieht vor, dass zunächst in einer Oberzuteilung alle Parteistimmen im ganzen Kanton summiert werden, wobei die Parteistimmen je Wahlkreis zunächst durch die Anzahl zustehender Gesamtsitze je Wahlkreis dividiert werden. So wird zunächst eine gesamtkantonale Sitzzuteilung je Partei festgelegt. In einer Unterzuteilung wird dann mittels iterativem Verfahren festgelegt, in welchem Wahlkreis welche Partei wie viele Sitze bestellen darf. Die Motionäre erachten dieses Verfahren als gerechter. Diese Würdigung liegt allerdings im Auge des Betrachters. Aus der Optik des einzelnen Wahlkreises wird der Wille der eigenen Stimmberechtigten vom Willen anderer Wahlkreise verwässert und übersteuert. Sie können nicht mehr autonom wie bisher entscheiden, wen sie in das Kantonsparlament entsenden.

Aus der Optik einzelner Parteien mag der doppelte Pukelsheim gerecht wirken. Aus Sicht der Bevölkerung eines einzelnen Wahlkreises ist er dies sicher nicht. Oppliger-Sennwald ist im Jahr 2016 ganz knapp an der Wiederwahl im Proporzverfahren gescheitert. Das ist richtig. Er ist letztlich am Willen der Werdenberger Stimmberechtigten gescheitert. Im Jahr 2020 ist es ihm gelungen, in demselben Verfahren wieder Einsitz zu nehmen. Das war der autonome Entscheid des Wahlkreises. In einem Ringkanton mit sehr unterschiedlichen Regionen ist der Wille im jeweiligen Wahlkreis höher zu gewichten als das Befinden einzelner Parteien.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Bosshard-St.Gallen (im Namen der GRÜNE-Fraktion): Auf die Motion ist einzutreten.

Der Slogan für die neue Abstimmungsbroschüre des Kantons lautet: «Ihre Stimme zählt.» Genau dieses Prinzip will diese Motion für die Kantonsratswahlen umsetzen. Unser Ziel ist es sicherzustellen, dass die abgegebenen Stimmen der Wählerinnen und Wähler tatsächlich Gewicht haben. Mit dem gegenwärtigen veralteten Wahlsystem im Kanton werden nicht alle Stimmen berücksichtigt, was zu einem Verlust von Stimmen führt, insbesondere in den kleineren Wahlkreisen zwischen neun und elf Sitzen.

In den letzten Jahren haben verschiedene Kantone ihr Wahlsystem von Hagenbach-Bischoff auf den doppelten Pukelsheim umgestellt. Offensichtlich hat sich das alte Wahlsystem dort nicht bewährt. Die Frage stellt sich also, wieso im Kanton St.Gallen nun behauptet wird, hier sei dies anders. Wie wollen Sie den Wählerinnen und Wählern erklären, dass ihre Stimme teilweise nicht zählt, obwohl sie sich die Mühe gemacht haben, einen Wahlzettel auszufüllen und diesen abzugeben? Die Wahlbeteiligung ist weiterhin rückläufig. Eine Anpassung an ein gerechteres Wahlsystem könnte dazu beitragen, dass weniger Menschen in unserem Kanton das Gefühl haben, vom politischen System ungerecht behandelt zu werden. Es ist wichtig zu betonen, dass dies keine blosse technische Anpassung des Wahlverfahrens ist, sondern eine tiefgreifende demokratische Bedeutung hat. Unsere Absicht besteht darin sicherzustellen, dass bei den Kantonsratswahlen nicht nur die Stimmen ausgezählt werden, sondern dass jede Stimme tatsächlich auch zählt.

Wir appellieren daher, unsere Motion zu überweisen, damit auch bei den Kantonsratswahlen der Slogan «Ihre Stimme zählt» uneingeschränkt gilt.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Monstein-St.Gallen (im Namen der GLP): Auf die Motion ist einzutreten.

Vielleicht hilft es, wenn ich im Namen der Grünliberalen spreche. Auf jeden Fall versuche ich auf den Punkt zu kommen, denn Sie haben einen Vorschlag für ein neues und objektiv gerechteres Wahlverfahren für unseren Kantonsrat vor sich liegen. Es mag sein, dass bereits in der Vergangenheit über dieses Anliegen diskutiert und befunden wurde, dies stellt jedoch in keiner Art und Weise ein gutes Argument dar, um am bisherigen System festzuhalten. Wasserfallen-Goldach hat vorgestern in der Diskussion zum Geschäft 42.22.20 «Alkoholverbot in der Badi aufheben» gesagt, es sei nicht verboten, als Gesetzgeber zu lernen und schlauer zu werden und in der Vergangenheit gemachte Fehler rückgängig zu machen und zu korrigieren. Ich habe mich sehr über diese Aussage gefreut, und selbstverständlich wäre sie auch hier und jetzt bestens passend.

Angesichts der Antwort der Regierung und der Mehrheit in diesem Saal machen wir uns jedoch keine Illusionen. Trotzdem appelliere ich an Sie alle, die Grundsätze der Erfolgswertgleichheit sowie der Rechtsgleichheit und der politischen Gleichbehandlung jeder wahlberechtigten Person hochzuhalten. Mit ihrer Argumentation, man habe bereits in der Vergangenheit über diese Frage beraten, wird die Regierung ihrer Verantwortung als gestaltende politische Kraft im Kanton schlicht nicht gerecht. Auch das Argument, ein Wechsel zum sogenannten doppelten Pukelsheim gehe mit hoher Komplexität und fehlender praktischer Nachvollziehbarkeit einher, ist nicht überzeugend. Mehrere Kantone haben in der Zwischenzeit die doppeltproportionale Divisormethode mit Standardrundung eingeführt, darunter z.B. unser Nachbarkanton Zürich. Und Sie wollen uns weismachen, für uns sei dieses System zu komplex?

Weiter schreibt die Regierung ernsthaft, es könnten potenzielle Verzerrungen bei der Sitzzuteilung auf Ebene der Wahlkreise entstehen. Bei den letzten Kantonsratswahlen haben wir Grünliberale im Wahlkreis Sarganserland mit der Liste Fokus Sarganserland 7,82 Prozent Wähleranteil aber keinen Sitz erhalten. Da muss mir jemand erklären, wo mit einem Systemwechsel noch grössere Verzerrungen auftreten würden. Oder erinnern wir uns bloss an die letzten Nationalratswahlen vor wenigen Wochen. Mit einem Verlust von 0,25 Prozent Stimmenanteil haben wir Grünliberale schweizweit sechs unserer 16 Mandate, also 37,5 Prozent der Mandatskraft, verloren. Das sind Verzerrungen. Wenn dann dieser Rat oder die Regierung sagt, man wolle, dass die Mandatszuteilung auf die Partei nicht vom eidgenössischen Wahlrecht für die Nationalratswahlen abweicht, wird gleichzeitig verschwiegen, dass man auf nationaler Ebene zumindest das Instrument der Listenverbindungen kennt, das die Nachteile für kleinere Parteien abfedern soll. Im Kanton St.Gallen sind Listenverbindungen aber nicht zugelassen. Den Vergleich unserer Fraktionsmindestgrösse mit derjenigen im Nationalrat erspare ich Ihnen heute. Aber auch der wäre in diesem Kontext selbstverständlich relevant.

Bei unserem bisherigen Wahlverfahren Hagenbach-Bischoff werden die grösseren Parteien bevorzugt. Das wissen wir alle und das wird auch nirgends bestritten. Ich bitte Sie daher: Sichern Sie Ihre Macht durch gute Politik und nicht durch ein Wahlverfahren, das kleinere Parteien und Minderheiten eindeutig benachteiligt. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir als gewählte Kantonsrätinnen und Kantonsräte, selbstverständlich auch als Regierungsrätinnen und Regierungsräte, in erster Linie der Bevölkerung – und zwar der ganzen Bevölkerung – verpflichtet sind und nicht einer politischen Partei.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Müller-St.Gallen: Auf die Motion ist einzutreten.

Die Regierung möchte das gleiche Wahlverfahren anwenden wie bei den Nationalratswahlen. Als Gründe für ihr Nein zum Pukelsheim-Verfahren nennt sie die fehlende praktische Nachvollziehbarkeit, die damit einhergehende Intransparenz sowie die potenziellen Verzerrungen. Diese Argumentation steht gleich in zwei Punkten auf sehr wackligen Beinen, nämlich dann, wenn wir die Nationalratswahlen vom Herbst 2023 betrachten.

  1. Mit einem Wähleranteil von 27,9 Prozent hat die SVP 62 Sitze erhalten. D.h., die SVP braucht für einen Sitz einen Wähleranteil von 0,45 Prozent. Die EVP hingegen erhält für 2 Prozent Wähleranteil lediglich zwei Sitze. Sie braucht also für jeden Sitz einen Wähleranteil von einem Prozent – mehr als das Doppelte der SVP. Noch drastischer ist es bei der Mouvement citoyens genevois (MCG) in Genf, die für 0,5 Prozent Wähleranteil sogar zwei Sitze erhalten hat. Das versteht niemand. Es ist nicht praktisch nachvollziehbar, ist intransparent und führt zu erheblichen Verzerrungen. Folglich werden also alle drei Negativkriterien erfüllt, welche die Regierung dem modernen Wahlverfahren nach Pukelsheim vorwirft.
  2. Beim Wahlverfahren Hagenbach-Bischoff werden die grossen Parteien bevorzugt. Das wissen alle und das wird auch nirgends bestritten. Um die Benachteiligung der kleineren Parteien zu reduzieren, gibt es bei den Nationalratswahlen Listenverbindungen. Wenn die Regierung argumentiert, es müsse gleich wie bei den Nationalratswahlen gewählt werden, müsste sie wenn schon auch für Listenverbindungen argumentieren. Dies macht sie nicht, weil Listenverbindungen nicht nachvollziehbar und intransparent sind und zudem die Verzerrung nicht aufheben können. Also auch hier sind die Negativargumente für das Hagenbach-Bischoff-System anwendbar und nicht für das Pukelsheim-Verfahren. Wenn also klar und unbestritten ist, dass das Hagenbach-Bischoff-Verfahren die kleineren Parteien benachteiligt und man dies mit Listenverbindungen nicht abfedern will, kann nur ein Wechsel zu einem neuen, modernen Wahlverfahren die Lösung sein. Ansonsten müssen sich Regierung und Kantonsrat vorwerfen lassen, sich die eigene Macht auf Kosten der Minderheiten zu sichern.

Weshalb ist Hagenbach-Bischoff ungerecht und weshalb braucht es den Wechsel? Zwei St.Galler Beispiele:

  • Erneuerungswahl des Kantonsrates vom 8. März 2020: Im Wahlkreis Sarganserland erhält Fokus Sarganserland bzw. die GLP mit einem Wähleranteil von 7,82 Prozent keinen Sitz. Diese Leute sind nun im Kantonsrat nicht vertreten. Ihre Stimmen waren eigentlich wertlos und zählten nicht. Insgesamt landeten im Wahlkreis Sarganserland so etwas mehr als 9 Prozent aller Stimmen direkt im Papierkorb, also fast jede zehnte Person.
  • Erneuerungswahl des Kantonsrates vom 28. Februar 2016: Dieses Beispiel aus dem Wahlkreis Werdenberg geht mir persönlich immer noch nahe. Manche mögen sich noch erinnern, als damals mein Kollege Oppliger-Sennwald extrem knapp nicht mehr gewählt wurde. Nicht etwa, weil seine Liste ein schlechtes Resultat gemacht hätte, aber 8,79 Prozent Wähleranteil reichen einfach nicht für einen Sitz. Die Stimmen waren alle wertlos. Das ist noch nicht alles. Insgesamt landeten im Wahlkreis Werdenberg 2016 14,55 Prozent aller Stimmen direkt im Papierkorb und zählten nicht. 14,55 Prozent sind vergleichbar, wie wenn wir hier immer bis sieben durchnummerieren würden und alle, die eine Sieben haben, werden von der Abstimmung ausgeschlossen. Das wären dann 17 Kantonsräte. Wollen wir das? Will das die Bevölkerung? Sicher nicht.

Demokratie heisst, dass jede Stimme zählen soll. Die Lösung dafür: Das bestens erprobte Wahlverfahren nach Pukelsheim, das bereits in neun Kantonen erfolgreich angewendet wird und in diesen Kantonen auch nicht umstritten ist. Die Regierung sagt: Praktisch nicht nachvollziehbar, intransparent, führt zu Verzerrungen. Mit Verlaub, wer solche Dinge behauptet, hat Pukelsheim nicht verstanden.

Die praktische Nachvollziehbarkeit: Doppelproporz im Kanton St.Gallen heisst, wenn eine Partei 0,83 Prozent erreicht, erhält sie einen Sitz, mit 1,66 Prozent zwei Sitze usw. Das ist für alle einfach nachvollziehbar und kann problemlos mit dem Taschenrechner ausgerechnet werden. Intransparent soll es wohl sein wegen der sogenannten gegenläufigen Sitzverschiebung. Die gegenläufige Sitzverschiebung gibt es bei Pukelsheim tatsächlich, jedoch v.a. in kleinen Wahlkreisen mit drei oder weniger Sitzen. Das gibt es in Graubünden mit sehr vielen sehr kleinen Wahlkreisen. Da im Kanton St.Gallen – der kleinste Wahlkreis ist Werdenberg mit neun Sitzen – alle mittelgross bis gross sind, ist mit solchen Sitzverschiebungen nicht zu rechnen und das Argument der Intransparenz kann zurückgewiesen werden. Zudem ist zu sagen: Bei Nationalratswahlen nach Hagenbach-Bischoff gibt es mindestens so viele intransparente Sitzverschiebungen und es ist nicht einfach anhand der Parteigrösse ablesbar, wer wie viele Mandate erhält. Zudem ist es im Doppelproporz auch so: Wer ein Vollmandat erzielt, wird dies in der Mandatsverteilung auch im entsprechenden Wahlkreis erhalten. Restmandate hingegen werden über den Kanton verteilt. Zur Verzerrung: Doppelproporz hebt eben genau die eingangs erwähnten Verzerrungen auf. Es ist dann nicht mehr so, dass 14,55 Prozent der Stimmen einfach weggeschmissen werden und alle Sitze den grossen Parteien verteilt werden, die dann überproportional vertreten sind, sondern jede Gruppierung erhält so viele Sitze, wie ihr nach gängigen, mathematischen Regeln aufgrund ihres Wähleranteils zustehen.

Noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen der FDP: Für zwei Sitze im Nationalrat braucht es 15,3 Prozent Wähleranteil. Mit 14,4 Prozent hat die FDP dies um ein Prozent verfehlt und es hätte durchaus sein können, dass ihre 6,6 Prozent über den erforderlichen Prozenten für einen Sitz ebenfalls im Papierkorb gelandet wären. Dieses System hat keine Zukunft. Jede Stimme soll zählen.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession
29.11.2023Wortmeldung

Dürr-Gams, Ratsvizepräsidentin: Die Regierung beantragt Nichteintreten auf die Motion.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2023, Wintersession