Geschäft: Wahl des Präsidenten des Kantonsrates der Amtsdauer 2010/2011

Übersicht
KomiteeKantonsrat
Nummer11.10.02
TitelWahl des Präsidenten des Kantonsrates der Amtsdauer 2010/2011
ArtKR Mutation Wahl
ThemaGrundlagen und Organisation
FederführungStaatskanzlei
Eröffnung26.4.2010
Abschluss7.6.2010
Letze Änderung9.12.2021
vertraulichNein
öffentlichJa
dringendNein
Dokumente
PubliziertTypTitelDatei
AntragWahlvorschlag der FDP-Fraktion vom 7. Juni 2010
Statements
DatumTypWortlautSession
7.6.2010Wortmeldung

Ratspräsident: Ich danke Ihnen herzlich für die Wahl zum Kantonsratspräsidenten für das Amtsjahr 2010/2011 und damit für das mir ausgesprochene grosse Vertrauen. Die Wahl ehrt mich, meine Heimat, meine Wohnstadt St.Gallen und meine FDP-Fraktion. Dieser Moment und die Freude über meine Wahl hat auch den höchsten Repräsentanten des Stadtparlamentes, dessen Mitglieder morgen in corpore Gäste meiner Feier sind, hierherbewogen. Ich danke ihnen dafür und begrüsse auf der Zuschauertribüne den Präsidenten des Stadtparlamentes, Franz Fässler, ganz besonders herzlich. Meiner ebenfalls anwesenden Frau Brigitte und meinem Sohn Pascal danke ich für die Unterstützung und für das Verständnis, welches sie mir wohl oder übel im kommenden Amtsjahr für die vielen spannenden, interessanten, aber auch neuen zeitlichen Verpflichtungen entgegenbringen müssen oder werden.

Das, was wir eben gehört haben, ist ein Vorgeschmack auf meinen morgigen Empfang; es ist ein Teil der Knabenmusik der Stadt St.Gallen, heute vertreten durch die weitherum beachtete Tambourengruppe unter der Leitung von Daniel Kern. Meine morgige Feier wird von allen Teilen der Knabenmusik, der Juniorband, dem grossen Orchester, den Tambouren und den Majoretten begleitet sein. Es ist mir wichtig, mit den Talenten junger Menschen zu zeigen, dass die Jugend unsere Hoffnung ist und dass die Zukunft auf der Fähigkeit und der Kraft der heutigen Jugend basiert. Ich will damit George Bernard Shaw antworten, der einmal die bange Frage gestellt hat, wieso der Mensch die Jugend in einem Alter bekommt, indem er nichts davon hat. Die jungen Talente der Knabenmusik unter der geschickten Leitung unseres Ratskollegen Straub-St.Gallen werden uns morgen vom Gegenteil dieser Befürchtung überzeugen.

Es ist für mich eine grosse Herausforderung und alles andere als selbstverständlich, dass Sie mir für das nächste Jahr die Aufgabe des Ratspräsidenten anvertrauen. Ich zähle dabei auf Ihre Unterstützung. Helfen Sie mir, den Ratsbetrieb ruhig, fair und kooperativ zu gestalten, gerade auch weil Vorboten und Verlockungen, aber auch Schatten mit Blick auf die Wahlen 2011 in diesem Amtsjahr wohl spürbar sein werden. Es ist mir zunächst ein grosses, persönliches Bedürfnis, meiner Vorgängerin und unserer bisherigen Kantonsratspräsidentin, Elisabeth Schnider, herzlich und aufrichtig zu danken. Sie hat den Kantonsrat mit grosser Umsicht und Gelassenheit, aber auch mit der einer guten Grundbuchverwalterin eigenen Präzision geführt. Sie hat dem Rat, aber auch dem Präsidium dank ihrer Verlässlichkeit und ihrem eigenständigen Humor, der die Menschen aus Vilters-Wangs so bemerkens- und liebenswert macht, geführt und den Kanton bei verschiedenen Anlässen und Begebenheiten würde- und wirkungsvoll vertreten, letztmals gestern am eidgenössischen Trachtenfest in Schwyz. Für mich war die Zusammenarbeit mit Elisabeth Schnider aber nicht nur äusserst kollegial und bereichernd, sondern auch lehrreich. Sie hat mir in grossem Vertrauen früh die Sitzungsleitung überlassen und mir damit die Gelegenheit gegeben, wertvolle Erfahrungen und Sicherheit für die bevorstehenden Aufgaben zu sammeln. Liebe Elisabeth, ich möchte Dir nicht nur in meinem Namen, sondern im Namen des Kantonsrates und des ganzen Kantons für Deine grosse Arbeit herzlich danken und Dir für Deine hoffentlich noch lange Zeit im Rat als wieder gewöhnliches Ratsmitglied weiterhin viel Freude und Genugtuung wünschen.

Präsidenten kommen und gehen, und es liegt in der Natur des Amtes des Ratspräsidenten - die weibliche Form ist hier miteingeschlossen -, dass er sich während eines Amtsjahres für den Nabel des Kantons hält und dann nach einem Jahr feststellen muss, dass er es doch gar nicht ist. Diesem Trugschluss sollen allerdings gelegentlich auch Angehörige anderer Staatsgewalten erliegen. Ich bin davon überzeugt, dass man sich in der Aufgabe des Ratspräsidenten nicht zu wichtig nehmen darf, aber dass man die Aufgabe sehr wichtig nehmen muss. Aufgabe des Präsidenten ist in erster Linie - und so will ich mein Amt auch in Ihrem Sinne verstehen und ausführen -, den Rat und die Geschäfte über alle Parteiinteressen hinweg speditiv und unabhängig zu führen. Lassen Sie mich auf vier Punkte eingehen, die für mich zentral sind:

  1. Im Kantonsratssaal thronte einst der Fürstabt, hier rief aber auch Karl Müller-Friedberg 1803 den unabhängigen Kanton St.Gallen aus, und schon bald tagte hier der Grosse Rat, wie unser Kantonsrat bis Ende 2002 hiess. Über die Prinzipien, nach denen die Arbeiten in diesem Raum ausgeführt werden sollen, gibt uns der Raum selbst Auskunft. Ursprünglich war der Raum mit spätbarocken Illusionsmalereien (warum wohl?) des Tiroler Meisters Pullacher ausgestaltet. Heute stellen an der Decke Frauengestalten (das ist wohl auch kein Zufall) die Eckpfeiler eines gut funktionierenden Staatswesens dar, nämlich: Rechtsordnung, Fortschritt, Bildung und Kultur. Daneben erinnern Flügelwesen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier an die Kultur der politischen Debatte: Ruhe, Ausgleich, Mass und Milde. An diese vier Tugenden darf ich erneut erinnern. Ruhe: weil nur jener die Argumente des andern aufzunehmen vermag, der bereit ist zuzuhören. Ausgleich: weil nur das dauerhaften Bestand hat, was die eigenen Ziele mit den guten Bestrebungen des politischen Gegners zu verbinden vermag. Mass: weil wir nicht nach Mästung, sondern nach Nahrung, auch im Politischen, trachten sollten. Milde: weil wir sie gerade gegenüber dem Andersdenkenden öfters walten lassen sollten - er könnte ja mit seiner Meinung vielleicht am Ende doch noch recht haben. Wer Recht erkennen und schaffen will, das hat schon Aristoteles gelehrt, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben. Der Präsident kann diese Prinzipien nicht diktieren, aber sie ab und zu in geeigneter Weise in Erinnerung rufen. Das darf und das soll er.

  2. Der Kantonsrat ist Organ des Volkes, nicht mehr, aber auch nicht weniger, wie das bereits der grosse Zürcher Staatsrechtslehrer Johann Kasper Bluntschli in seiner Schrift über Volk und Souverän festgestellt hat. Das steht zwar leider zu wenig deutlich in unserer Kantonsverfassung, ist aber staatsrechtliche Selbstverständlichkeit. Deshalb ist es auch Aufgabe des Präsidenten, die Funktion und die Bedeutung des Parlamentes als direkte Instanz des Volkes und als Organ des Volkswillens immer wieder klarzumachen gegenüber der Regierung (in erster Linie), gegenüber den Gerichten (darüber hinaus) und - wie es schon Montesquieu gelehrt hat und wohl immer noch lehren würde - auch gegenüber den Medien, der vierten Gewalt im Staat, die institutionell nicht in das System der Gewaltenteilung und Kontrolle eingebunden sind. Weiters auch dem Rat selbst gegenüber, der in seiner Rolle oft allzu stark der Tagespolitik verhaftet ist. Dem Parlament kommt, wie keiner anderen Staatsgewalt, die Funktion zu, Befindlichkeiten und politische Bedürfnisse aufzufangen, zu diskutieren, zu bewerten und mehrheitsfähigen Lösungen zuzuführen. Leider gerät dabei oft der Kernsatz im Ingress unserer Verfassung in Vergessenheit, wonach es unsere Aufgabe ist, unser geschichtlich gewachsenes Staatswesen in Freiheit und Recht zu gestalten. Die Reihenfolge ist nicht zufällig gewählt.

  3. Das Parlament muss bei der Umsetzung des klaren Verfassungsauftrages aufpassen, dass es bei der Schaffung von Gesetzen und dem Fällen von Beschlüssen seine Rolle und Funktion als Organ des Volkes auch tatsächlich wahrnimmt und möglichst in seiner Hand behält. Was meine ich damit? Zum äussern Erscheinungsbild der heute überall feststellbaren Gesetzesinflation gehört v.a. die Wandlung und teilweise Abwertung des Gesetzes im herkömmlichen Sinne. Es ist das Gesetz und grundsätzlich nur das Gesetz, welches natürlichen und juristischen Personen Pflichten auferlegen und Rechte zugestehen darf. Die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes äussert sich leider darin, dass wir gerne dazu neigen, wichtige Entscheide über Grundsätze unseres Zusammenlebens nicht mehr selbst zu treffen, sondern an die Regierung und die Verwaltung zu delegieren.

  4. Achten wir darauf, dass nicht jeder Zweifel und jede operative Hektik der Tagesdiskussion gleich sofort zum Elefanten der Verwirrung oder noch schlimmer, zur Richtschnur der Gesetzgebungsaktivität wird. Die Diskussion im Rat soll zudem nicht um ihrer selbst willen oder zum Zwecke der politischen Selbstverwirklichung einzelner Parteien oder Gruppierungen geführt werden, auch wenn sich dadurch vielleicht kurzfristig Mehrheiten finden. Diskussionen sollten nie Selbstzweck sein, auch nicht in einem Wahljahr.

Das ist meine Hoffnung für dieses Amtsjahr. Selbstverwirklichung verträgt sich schlecht mit der Verantwortung für andere. Gerade der Kantonsrat als Organ des Volkes muss sich davor hüten, allzu bereitwillig in die Rolle des umfassenden Problemlösers und Heilbringers zu schlüpfen. In einem sehr beachtlichen Aufsatz hat vor wenigen Monaten Guy Kirsch, Professor für Neue Politische Ökonomie an der Universität Freiburg, in der NZZ aufgezeigt, dass übersteigerte Erwartungen an die Politik, falsche Heilsversprechen der Politiker und hoheitliches Unvermögen zu einem gefährlichen Klima des Misstrauens gegenüber dem Staat führen können. So häufig wie selten zuvor wird vom Staat die Lösung der Probleme des individuellen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens erwartet. Wie selten zuvor wird dem Staat aber gerade heute mit grossem Misstrauen begegnet, und wie selten zuvor ist schliesslich gegenwärtig der Staat in seinen Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt. Dass Politikerinnen und Politiker das Volksempfinden ernst nehmen, ist das notwendige eine; dass sie aber das Volksempfinden zu einem falschverstandenen Machbarkeitsglauben verleitet, ist das unverantwortliche andere. Wenn wir als Parlament den Eindruck erwecken, dass das, was in Wirtschaft und Gesellschaft nicht optimal läuft, mit ein paar Stunden Debatte und Verabschiedung einiger Gesetze oder einer ganzen Flut von neuen Vorstössen gelöst werde, dann täuschen wir das Volk und werden unserer Aufgabe nicht gerecht. Die Stimmbürger erwarten vom Parlament und von der Regierung konstruktive Lösungen und machbare Lösungsansätze, gerade auch in einem Wahljahr. Oscar Wilde hat einmal trefflich und ironisch formuliert, dass man Versuchungen nachgeben sollte, weil man nicht wisse, ob sie je wiederkommen. Dieser Satz gilt hier nicht. Bemühen wir uns, nicht jeder Versuchung nach einem Vorstoss nachzugeben und nicht jedes Problem an die Regierung und Verwaltung zu delegieren. Der Souverän erwartet von uns das Gegenteil. Übernehmen wir wieder mehr Verantwortung, regeln wir wieder mehr selbst und widerstehen wir der Versuchung, jede momentan ungelegene Entwicklung gleich mit einer Vielzahl von Vorstössen und Gesetzen beeinflussen zu wollen und dabei anderen die Verantwortung zuzuschieben. Zeigen wir, dass wir nicht im Zeitalter der Kunst, «nicht gewesen zu sein», leben, wie das Malraux einmal formuliert hat, sondern unsere vornehmste Aufgabe für das Volk, an seiner Stelle zu handeln, wahrnehmen. In diesem Sinne freue ich mich auf ein spannendes Jahr als Ihr Präsident.

Session des Kantonsrates vom 7. und 8. Juni 2010