Geschäft: Proporzwahlrecht: Einführung eines gerechteren Sitzzuteilungsverfahrens

Übersicht
KomiteeKantonsrat
Nummer42.06.09
TitelProporzwahlrecht: Einführung eines gerechteren Sitzzuteilungsverfahrens
ArtKR Motion
ThemaGrundlagen und Organisation
FederführungDepartement des Innern
Eröffnung4.4.2006
Abschluss29.11.2006
Letze Änderung9.12.2021
vertraulichNein
öffentlichJa
dringendNein
Dokumente
PubliziertTypTitelDatei
BeilageBeilage vom 27. November 2006
AntragAntrag der Regierung vom 2. Mai 2006
VorstossWortlaut vom 4. April 2006
Beteiligungen
DatumAkteurTitelLetze Änderung
1.8.2019Person1.7.2024
14.10.2020Person21.11.2024
1.8.2019Person27.6.2024
1.8.2019Person27.6.2024
Abstimmungen
DatumTitelResultatöffentlich
JaBedeutungNeinBedeutungAbsent / Enthaltung
29.11.2006Eintreten37Zustimmung89Ablehnung54
Statements
DatumTypWortlautSession
29.11.2006Wortmeldung

Auf die Motion ist nicht einzutreten.

Ich habe, soweit es möglich war, recht gut zugehört bei den Erläuterungen von Denoth-St.Gallen. Das Zitat, das Sie aus dem Ratsprotokoll entnommen haben, das würde ich auch heute so wieder sagen. Wenn ich Sie aber richtig verstanden habe, dann bemängeln Sie beim jetzigen Wahlsystem, dass es eigentlich ungerecht, undemokratisch und verfälscht sei. Das waren einige Worte, die Sie verwendet haben. Das muss ich in aller Form zurückweisen. Es gibt zwei verschiedene Berechnungsmodelle, das eine ist Hagenbach-Bischoff, das wir anwenden, das andere ist der doppelte Pukelsheim. Das sind Wahlzählmethoden, die beide demokratisch sind und den Wählerwillen zum Ausdruck bringen. Sie unterscheiden sich in einer Nuance, dabei gebe ich Ihnen recht. Das heute geltende System begünstigt tendenziell eher die grösseren Parteien, das andere tendenziell eher die kleineren Parteien. Die Regierung hat sich mit dieser Frage schon sehr oft auseinandergesetzt und empfiehlt die Ablehnung dieser Motion mit dem Hinweis darauf, dass sich das st.gallische Wahlrecht stark am Wahlrecht für den Nationalrat orientiert. Es geht also darum, dass wir nicht zwei verschiedene Systeme in unserem Kanton haben. Es ist eine ganz praktische Argumentation, an der sich die Regierung orientiert. Was man aber auch mit aller Deutlichkeit sagen muss: Es sind beide Verfahren demokratisch und bringen den Wählerinnen- und Wählerwillen zum Ausdruck. Man kann nicht sagen, das eine sei ungerecht. Es ist eine Nuance. Wir finden es einfacher und zweckmässiger, wenn das Verfahren bei beiden Proporzwahlgängen, die wir im Kanton St.Gallen haben, in etwa gleich sind.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2006
29.11.2006Wortmeldung

Ratspräsident: Die Regierung beantragt Nichteintreten.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2006
29.11.2006Wortmeldung

Auf die Motion ist einzutreten.

Es besteht eine reichhaltige Rechtsprechung zur Frage der Verteilverfahren bei Verhältniswahlen. Ein ausführlicher und aktueller Entscheid, der die Problematik der Verhältniswahlen sehr genau behandelt, befasst sich mit der Parlamentswahl in der Stadt Zürich vom 3. März 2002. Umso mehr bin ich von der Regierung enttäuscht, dass sie nicht einmal das Problem ernsthaft angehen will, zumal es nicht nur um eine politische, sondern vielmehr um wichtige Fragen der Gerechtigkeit und der Grundsätze der demokratischen Volksrechte geht. Es ist nun einmal Tatsache, dass nicht jedes mathematische Berechnungsverfahren bei Verhältniswahlen verfassungskonform ist und die Stimme einer Wählerin oder eines Wählers äusserst stossend ungleich gewichtet. Besonders das heute zur Anwendung gelangende Zuteilungsverfahren nach Hagenbach-Bischoff begünstigt regelmässig grosse Parteien. Die Erfolgswertgleichheit, wie sie das Bundesgericht im Entscheid vom 28. Mai 1997 (BGE 123 I 97) verlangt, wird mit diesem Verfahren bei Kantonsratswahlen klar nicht erreicht. Aus dem Grundsatz der Rechtsgleichheit und der politischen Gleichbehandlung jeder wahlberechtigten Person folgt die Wahlrechtsgleichheit und die Zählwertgleichheit. Dies bedeutet, dass alle gültigen Stimmen gleich in die Berechnung einfliessen und somit auch in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen müssen. Die Vorsteherin des Departements des Innern formulierte es am 3. Dezember 1998 anlässlich der Debatte über das IV. Nachtragsgesetz zum Urnenabstimmungsgesetz wie folgt - ich zitiere aus dem Grossratsprotokoll Nr. 417/7: «... auf die Vorlage [ist] einzutreten. Faire und transparente Spielregeln sind ebenso Grundlage der Demokratie wie der Schutz von Minderheiten. Hauptziel des Urnenabstimmungsgesetzes muss die unverfälschte Kundgabe des Willens der Wählerinnen und Wähler sein.» Präsident der vorberatenden Kommission war damals Haag-Wittenbach, heute Vorsteher des Baudepartementes. Gemäss Bundesgericht soll aber gerade Art. 34 Abs. 2 der Bundesverfassung die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe schützen. Der in dieser Bestimmung verankerte Grundsatz der Stimm- und Wahlrechtsfreiheit dient der Konkretisierung der politischen Gleichheit. Diese ist mit der Rechtsgleichheit von Art. 8 Abs. 1 Bundesverfassung eng verknüpft. Das Gleichheitsgebot ist Bestandteil der Stimm- und Wahlfreiheit. Deshalb kommt ihm für die politischen Rechte besondere Bedeutung zu. Aus der Rechtsgleichheit und der politischen Gleichberechtigung im Speziellen folgt die Wahlrechtsgleichheit mit folgenden drei Ableitungen.

  1. Die Zählwertgleichheit sichert allen Wählern desselben Wahlkreises die Zuteilung einer gleichen Anzahl von Stimmen, die Möglichkeit ihrer Abgabe sowie die gleiche Berücksichtigung aller gültig abgegebenen Stimmen bei der Stimmenzählung zu.

  2. Die Stimmkraft- und Stimmgewichtsgleichheit soll jedem Wähler garantieren, dass eine Stimme verwertet und nicht nur gezählt wird.

  3. Die Erfolgswertgleichheit garantiert, dass alle Stimmen in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen, wobei möglichst alle Stimmen bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigen sind.

Die Zahl der gewichtslosen Stimmen ist auf ein Minimum zu begrenzen. Die Erfolgswertgleichheit erfasst damit nicht nur den Anspruch auf Verwertung der Stimme, sondern bedingt auch eine innerhalb des gesamten Wahlgebietes gleiche Verwirklichung des Erfolgswertes. Damit hat sie wahlkreisübergreifenden Charakter. Deshalb widerspricht die Schaffung von künstlichen Quoren oder Sperrklausen dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit. Damit ergeben sich aus rechtlicher Sicht folgende Anforderungen an ein gerechtes bzw. bundesverfassungskonformes Verhältniswahlverfahren:

  1. Die Zählwertgleichheit ist zu wahren, allen Wählerinnen und Wählern desselben Wahlkreises ist deshalb dieselbe Zahl von Stimmen zuzuweisen. Die Wählerinnen und Wähler müssen die Stimmen abgeben können, und die Stimmen sind im Auszählungs- und Sitzverteilungsverfahren auch tatsächlich zu berücksichtigen.

  2. Die Stimmkraft oder Stimmgewichtsgleichheit ist zu wahren. Das Verhältnis zwischen der Bevölkerungszahl eines Wahlkreises und der Zahl der diesem Wahlkreis zugewiesenen Mandate muss für alle Wahlkreise des Wahlgebietes möglichst gleich sein.

  3. Die Erfolgswertgleichheit ist zu wahren, und zwar mit Blick auf das ganze Wahlgebiet. Alle Stimmen sollen in möglichst gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen, d.h. in möglichst gleich intensiver Weise die Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen, nach dem Grundsatz: «Alle Wählerinnen und Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgegeben haben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben.» Die Erfolgswertgleichheit ist dabei innerhalb des einzelnen Wahlkreises und auch wahlkreisübergreifend, also innerhalb des gesamten Wahlgebietes zu respektieren.

  4. Minderheitsparteien mit gefestigtem Rückhalt in der Bevölkerung sollen im Parlament vertreten sein. Diese Forderung ist im Zusammenhang mit einer Sperrklausel oder natürlichen Quoren zu sehen.

  5. Die Minimierung des Anteils gewichtsloser Stimmen. Das Bundesgericht fordert verschiedentlich, dass die Zahl der Wählenden, die ohne Vertretung im Parlament sind, zu minimieren ist. Die Anzahl gewichtsloser Stimmen ist so tief wie möglich zu halten. Wie das Bundesgericht zu Recht ausführte, hängt der Anteil der gewichtslosen Stimmen indessen nicht nur von der Grösse des Wahlkreises ab, sondern auch von der bei jedem Wahlgang unterschiedlichen Zahl der kandidierenden Listen und der Verteilung der Stimmen auf die Listen. Ein höchstens zulässiger Anteil der gewichtslosen Stimmen lässt sich deshalb nicht festlegen.

Dies lässt sich z.B. bei den Kantonsratswahlen 2004 erläutern. Sie haben ein gelbes Blatt erhalten als Beilage. Dort sehen Sie den Vergleich zwischen den Verteilverfahren nach Hagenbach-Bischoff und der doppelproportionalen Divisormethode mit Standardrundung. Im ersten Abschnitt haben Sie den Vergleich der Oberzuteilung auf Kantonsratsebene für die 180 Sitze. Da merken Sie, dass es gewisse Verschiebungen gibt. Im zweiten Abschnitt haben Sie den Vergleich der Unterzuteilung auf die Wahlkreise, ebenfalls mit 180 Sitzen berechnet. Dort ergeben sich in einzelnen Wahlkreisen Änderungen. Im dritten Abschnitt haben Sie den Vergleich der Unterzuteilung auf die Wahlkreise bei einem auf 120 Sitze verkleinerten Rat. Hier wurde allerdings mit einem Quorum von 5 Prozent gerechnet, was allerdings keinen grossen Einfluss auf das Resultat hat. Die Sitzverteilung im Kantonsrat sollte den Willen der Wählerschaft möglichst genau widerspiegeln. Dies spricht in grundsätzlicher Weise gegen die Einführung eines Quorum, denn bei jeglicher Art von Quorums bleibt eine gewisse Anzahl von Wählerstimmen ohne jede Wirkung. Dies verstösst - wie erwähnt - gegen einzelne Bestimmungen in der Bundesverfassung.

Wie funktioniert das Sitzzuteilungsverfahren «doppelter Pukelsheim»? Es stützt sich zunächst auf der einfachproportionalen Divisormethode mit Standardrundung nach Webster und Sainte-Laguë ab. Es werden dabei die Quotienten aus Stimmen und Divisor nicht wie bei der Methode «Hagenbach-Bischoff» stets abgerundet, sondern standardmässig auf- oder abgerundet. Für Wahlen, die in mehreren Wahlkreisen durchgeführt werden, ist das Verfahren nach Webster und Sainte-Laguë durch den deutschen Mathematiker Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim, Lehrstuhl für Stochastik und ihre Anwendungen am Institut für Mathematik der Universität Augsburg, weiterentwickelt worden. Weil dieses Sitzzuteilungsverfahren zuerst im Kanton Zürich eingeführt worden ist, wird es auch «Neues Züricher Zuteilungsverfahren» genannt. Auch der Grosse Rat des Kantons Aargau hat sich mit der Einführung des «doppelten Pukelsheims» zu befassen, weil nach der Verkleinerung des Parlaments die Anpassung des Wahlsystems aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend erforderlich ist.

Zunächst wird vor den Wahlen für jeden Wahlkreis gestützt auf deren Einwohnerzahl die massgebende Anzahl Mandate mit der neuen Divisormethode berechnet. Dann erfolgt bei den Wahlen zuerst auf Ebene des Kantons die Oberzuteilung der Mandate auf die einzelnen Parteien. Nach Abschluss dieser Oberzuteilung steht fest, wie viele Sitz jede Partei gesamtkantonal erhält. Danach erfolgt die Unterzuteilung. Dabei geht es darum, die Sitze an die Wahlkreislisten der betreffenden Listengruppe weiterzugeben. Dies erfolgt nach der doppeltproportionalen Divisormethode mit Standardrundung, deshalb der Name «doppelter Pukelsheim». Doppeltproportional deshalb, weil die Parteistimmenzahl einer Liste sehr wohl durch den Wahlkreisdivisor als auch durch einen Listengruppendivisor zu teilen ist. Ich erspare Ihnen die Details des Berechnungsverfahrens. Die Programme können im Internet heruntergeladen werden. Der Dienst für politische Rechte hat in Zusammenhang mit der Diskussion der Verkleinerung des Kantonsrates alle diese Unterlagen geliefert; sie stehen den Kommissionsmitgliedern im RIS zur Verfügung. Es ist keine Hexerei, sondern relativ einfach zu handhaben. Die Sitzzuteilung «doppelter Pukelsheim» trägt verglichen mit allen anderen Wahlmodellen dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit am besten Rechnung. D.h., jede Stimme im Kanton hat grundsätzlich gleich viel Gewicht. Es werden bezogen auf den Kanton jeder Partei genau gleich viele Sitze zugeteilt, wie ihr nach der direkten Verhältnisrechnung zustehen. Auch die Stimmen einer Liste, die nach heutiger Methode in einem Wahlkreis leer ausgehen würden, werden bei dieser Berechnung der Sitzverteilung nach Parteien gesamtkantonal berücksichtigt. Diese Stimmen gehen somit nicht verloren und sind nicht wirkungslos. Sie können deshalb derselben Partei in einem anderen Wahlkreis zu einem Mandat verhelfen.

Aus verfassungsrechtlichen und urdemokratischen Gründen ist deshalb auf die Motion einzutreten, zumal heute nicht feststeht, wie das Volk in der Sache Verkleinerung des Kantonsrates am 11. März 2007 entscheiden wird.

Session des Kantonsrates vom 27. bis 29. November 2006